Lossow und Cocceji im Warthebruch

Nachtrag zum Heimatbericht:

.......Was hatte sich aber dort drüben - jenseits von Oder und Neiße - abgespielt? Das vollständig geräumte Land bis hin nach Ostpreußen besiedelte die russische Macht mit Menschen, die aus dem östlichen Polen stammten. Deren Landgebiete lagen hinter dem Bug und wurden über Nacht dem sowjetischen Staatsgebiet zugeschlagen. Die Polen erhielten dafür die deutschen Oder-Neiße-Gebiete, so dass ihre Westgrenze wesentlich vorverlegt wurde.

Die DDR schloss nach ihrer Gründung mit ihren östlichen Nachbarstaaten Freundschafts- und Nichtangriffsverträge, wodurch die Grenzen im östlichen Bereich schließlich auch etwas durchlässiger wurden. Nach einem langwierigen und komplizierten politischen Verfahren gestattete man zunächst DDR-Bürgern die Einreise nach Polen. Die in Westdeutschland wohnenden Heimatvertriebenen durften erst später die ersehnte Besuchsfahrt antreten, während es für Westberliner noch recht lange dauerte.

 Zu Beginn der 60er Jahre begannen die ersten Heimatfahrten über die Oder-Neiße-Linie hinaus. So gelang es auch meinen Eltern, auf dem Erlaubniswege nach Lossow zu fahren. Es war schon für die Heimatvertriebenen ein eigenartiges Gefühl, im heimatlichen Lossow - oder wo auch immer - zu stehen. Die Heimat wurde zur Fremde, denn die Menschen, die jetzt dort wohnten, sprachen eine andere Sprache. Aber dann kam die große Hürde, das frühere Eigentum zu betreten - Herzklopfen kam auf, und Mut gehörte auch dazu. Wie werden die jetzigen Besitzer wohl reagieren? Sind sie Hasserfüllt? Werden sie uns freundlich empfangen?

 Fragen über Fragen und immer wieder neue Gedanken tauchten bei jedem auf. Zunächst musste man sich um einen Polen bemühen, der mindestens ein wenig die deutsche Sprache beherrschte. In Lossow war das auch der Fall, denn es wohnte auf dem früheren Hof von Strauß/Werk eine Familie, von der die Hausfrau die Dolmetschertätigkeit willig übernahm,  wodurch dann eine Verständigung zustande kam.

Auf unserem Hof lebte eine Familie mit zwei Kindern, die uns sonderbarerweise sogar namentlich kannte, und so kam es zu einer gewissen Annäherung. Das Interesse galt zunächst der Bewirtschaftung des Hofes! In dieser Hinsicht galten fast die gleichen Verhältnisse, wie sie in der DDR vorherrschten. Sämtliches Ackerland befand sich in staatlicher Hand und wurde auch gemeinschaftlich bewirtschaftet. In den Ställen war kaum Vieh vorzufinden, und Mutters gut eingerichteter Gemüse- und auch der mit Stolz gepflegte Rosengarten  existierten nicht mehr. Ein schiefes Aussehen hatte die einst in Holzbauweise errichtete Scheune bekommen. Auf die Frage, warum das so ist, wurde es dem Wind zugeschrieben. In späteren Jahren war dieses Gebäude verschwunden – es hatte stets im Winter der Ofenfeuerung gedient.

Bei der Verabschiedung warteten die Gastgeber mit einer Überraschung auf, indem sie meinen Eltern meine wertvolle Bilderbibel, die ich einst von meinem Großvater als Konfirmationsgeschenk erhalten hatte, zurückgaben. Ich fand es als ganz besondere Geste und habe mich auch sehr darüber gefreut. Als niederschmetternd galt natürlich für die Heimatbesucher der Friedhofsbesuch. Sämtliche Denkmäler lagen von den Sockeln gestürzt im hohen Gras. Nicht nur meine Eltern, sondern auch viele Lossower suchten in Landsberger-Holländer Kontakt mit Hertha Maciejewska, geborene Weichsel. Sie hatte sich in den Polen Joseph Maciejewske verliebt und auch geheiratet, so dass ihr der Weg der entsetzlichen Flucht erspart blieb. Aus diesem Grunde konnten beide den väterlichen Hof übernehmen und dort wohnen bleiben. Seitdem gilt diese Adresse für viele Heimatreisende als bevorzugte Anlaufstelle.

Erst im Jahre 1977 durfte ich mich um ein Einreisevisum nach Polen bemühen. Die Spannung, endlich einmal selbst in die Heimat reisen zu können, war bereits groß, denn ging es doch darum, sich nun endlich ein eigenes Bild darüber zu machen, was mir in der Vergangenheit zugetragen worden war. Der Anreiseweg nach Lossow mit dem Auto führte meine Frau und mich über Frankfurt/Oder, wo die Volkspolizei und auch die polnischen Grenzbehörden zeitraubende und umständliche Kontrollen durchführten.

In Lossow und Cocceji angekommen, kam bei mir ein unsicheres Gefühl mit den Gedanken auf: Das ist nun die Heimat, in der Du die gesamte Jugendzeit bis 1945 verbrachtest. Hier hast Du freudige Ereignisse aber auch traurige Erlebnisse durchlebt und unendlich viele Schweißtropfen verloren! Es kamen aber noch andere Gedanken dazu. Bei der Gaststätte Preuße sah ich ein völlig verändertes Bild! Dieses Lokal hatte für dauernd die Türen geschlossen, denn vor der Haupteingangstür versperrte uns ein Gitter den Zutritt, vom Kolonialwarenladen gab es außer einem Reklameschild von Sanella keinen Zugang, doch der Tanzsaal konnte durch eine schmale Tür, die offen stand, betreten werden - sein Glanz war aber dahin! Auf dem weiteren Weg zu uns, hatte sich vieles verändert. Hinter dem Spritzenhaus sehen wir einen neu errichteten kleinen Kaufmannsladen, in dem auch Geschäftigkeit herrschte. Im weiteren Verlauf konnten wir feststellen, dass die Gehöfte wohl bewohnt waren, aber leider mangelte es an der von uns gewohnten Bewirtschaftung. Gemüse und Blumengärten hatten die neuen Bewohner völlig vernachlässigt. Nun zu unserem früheren Anwesen: Wir betraten den Hof mit einer Frau, die – wie schon erwähnt - in der Nachbarschaft wohnte und die sprachlichen Übersetzungsdienste verrichtete. Das zwischenmenschliche Verhältnis mit den jetzigen Bewohnern zeigte sich von einer ausgesprochen kühlen Art. Wir durften zwar sämtliche verbliebenen Gebäude betreten - nur nicht das Wohnhaus. Die Scheune fehlte restlos und in den Ställen gab es kein Vieh mehr zu sehen. Das Ackerland war bestellt, nur nicht der Gemüse und der Ziergarten dicht am Haus. Die Besitzerin zeigte sich erst dann aufgeschlossener, als wir mit Geschenken aufwarteten, denn nun erst gab sie den Weg in das Wohnhaus frei. Hier fand ich fast den alten bekannten Zustand wieder vor - einschließlich dem Mobiliar und den Tapeten. Auf dem Hof sah ich einen Holzkasten stehen, dem ich überhaupt keine Verwendungsmöglichkeit zuordnen konnte. Erst als ich die Abdeckung öffnete, sah ich den aus meiner Kindheit bekannten Pumpenbrunnen. Mein Vater hatte die hölzerne Pumpe entfernt und die Brunnenöffnung geschlossen und dafür im Stall eine eiserne Schwengelpumpe mit einem tiefen Brunnen setzen lassen. Mangels einer abgenutzten ledernen Manschette konnte sie von den Polen nicht weiter betrieben werden. Das ließ auf Armut und wahrscheinlich auf den Mangel an Ersatzteilen schließen.

 Anschließend begaben wir uns zu Hertha nach Landsberger-Holländer, die uns mit ihrem Joseph herzlich empfing und uns zu  nochmaligen Besuchen einlud. Wir folgten auch dieser Einladung und fuhren seit der Wende mindestens einmal jährlich in die Heimat. Seither steuern viele Heimatbesucher nicht nur aus unseren Dörfern, sondern aus dem gesamten Warthebruch diesen Hof an und nehmen ihre Gastfreundschaft gerne in Anspruch.

 Was gibt es ansonsten noch über Lossow und Cocceji zu berichten: Vollkommen beseitigt wurden in der Nähe unseres Hofes die Gehöfte von Paul Freitag, Walter Stielicke, die zu Fritz Bartzke, August Jaekel und Richard Blocksdorf gehörenden Gebäude. Die große Motormühle von Richard Zielicke fehlt ebenfalls - schade, denn sie galt als Wahrzeichen von Lossow und Umgebung! Aus dem nachfolgenden Dorfplan sind deutlich die klaffenden Lücken der abgerissenen Häuser und der Wirtschaftsgebäude zu erkennen. Ebenso deutet nichts mehr auf den Standort der ehemaligen Dorfschule hin. Vor dem Pfarrhaus stehen Flachbauten, die eine Zeitlang der Beschulung von Kindern gedient haben, der Kaufmannsladen von Paul Blocksdorf bietet heute keine Waren mehr an, und die Gastwirtschaft von Otto Pape ist ebenfalls nicht mehr präsent. Allerdings muss ich auf einige Neubauten hinweisen. So steht hinter dem ehemaligen Kaufmannsladen von Paul Blocksdorf eine neuerbaute Scheune, und gegenüber dem Grundstück von Emil Preuße ein massives Wohnhaus. Ebenfalls haben die Gebäude von Erich Giese neue Zubauten erhalten. Als sehr erfreulich kann die Verbesserung der Dorfstraßen hervorgehoben werden, denn sie sind mit einem Asphaltbelag versehen und lassen sich gut befahren. Unsere Kirche besitzt jetzt einen Mörtelputz und hinterlässt den Eindruck eines massiven Gebäudes. Die Seitenflügel des Altars mit den Aufschriften der Gefallenen des 1. Weltkrieges fehlen. Im Glockenturm hängt heute nur noch eine Glocke.

 Hinter der Kirche haben die Polen ihre Angehörigen bestattet, so dass fast die gesamte Fläche belegt worden ist. Niemand von unseren Gemeindebewohnern in der Gemeinde Cocceji-Neuwalde hat jemals daran gedacht auf Schwarzem Gold zu wohnen! Die Polen haben diesen wertvollen Schatz allerdings entdeckt und an drei oder vier Standorten nach Erdöl gebohrt, und es auch gefunden. Auf dem Acker von meinem Onkel Otto Bartzke beginnend bis hin zu dem Landwirt Lorenz liegt das Ölfeld, aus dem noch immer Erdöl sprudelt. Das Erdöl fließt zum eingerichteten Lager bei Otto Bartzke und wird über die Zufahrt von Richard Krieg abgefahren.

Nach Aussagen von Joseph Maciejewske soll es für die polnische Wirtschaft ein einträgliches Geschäft sein! Es lohnte sich wohl nicht, eine Pipeline nach Loppow zum Öllager zu bauen, und so sind Tanklastzüge ständig mit der Abfuhr des Erdöls beschäftigt. Schon beim Befahren der Straße von Willi Lehmann bis zur Gastwirtschaft Preuße sind deutlich die Lagertanks und der Schornstein mit einer deutlich sichtbaren Ölfackel zu sehen. Nun sehe ich noch ein neues Problem auf die dortigen Ortschaften zukommen,  weil die erste polnische Generation an Bewohnern mittlerweile alt geworden ist oder nicht mehr lebt. Ihre Kinder haben in der näheren Umgebung keine Arbeitsplätze gefunden – sie mussten in den meisten Fällen in die Ferne ausweichen. Hier können wir von einer regelrechten Landflucht sprechen, und so auch bei uns. Der Sohn unserer polnischen Familie arbeitet schon seit einer Reihe von Jahren im ehemaligen oberschlesischen Industriegebiet. Seitdem seine Eltern nicht mehr leben, kommt er mit seiner Familie nur noch zu seinen Urlaubszeiten nach Lossow, und das erfolgt nur im günstigsten Falle zweimal im Jahr. Während dieser Zeit sind Haus, Hof und Stallungen ihrem Schicksal überlassen und keiner kümmert sich um die Dinge, die ein Grundstück an Pflege und Unterhaltung benötigen. Die strohgedeckten Häuser halten der fortschreitenden Alterung überhaupt nicht mehr stand. Auch an den Fachwerkgebäuden zeigt sich der Verfall besonders deutlich. Mit Hilfe der Übersetzung von Hertha erklärte ich dem Nachfolger im letzten Jahr, dass er sich in erster Linie um die Ausbesserung der Dächer kümmern sollte! Diese Empfehlung hielt er für überflüssig, da es in keiner Weise ein Problem darstelle. Immerhin zeigte sich schon ein Erfolg. Als ich den reichlich verunkrauteten Hof in diesem Jahr betrat, musste ich feststellen, dass die Löcher in den Dächern repariert waren. Außerdem beginnt er auch offensichtlich mit Anstricharbeiten an Türen und dem Fachwerkholz. Leider traf ich ihn nicht an, und so hinterließ ich ihm ein schriftliches Lob.

 Zu meiner größten Verwunderung konnte ich im letzten Jahr bei meinem Besuch den Einbau einer Dusche und eines Spülklosetts beobachten. Das ist ein großer Fortschritt! Bei meiner Fahrt durch die Warthebruchdörfer fällt besonders der nicht vorhandene Straßenverkehr auf, denn es sind weder Fußgänger, Radfahrer noch Autos auf der Straße anzutreffen. Diese geschilderten Eindrücke sind größtenteils mit negativen Vorzeichen versehen, und es wäre nicht auszudenken, wenn sich dieses Land selbst entvölkern würde! Mein Wunsch ist es, dass es hier bald zu einem Wandel- zu einem Umdenken kommen möge, damit das fruchtbare Gebiet zu neuem Leben erwachen kann. Wir Heimatvertriebenen würden diesen Wunsch sehr begrüßen!

 Gerhard Bartzke, Studiendirektor i. R. Topsweg 8

40723 Hilden